„Vor 80 Jahren stand ich mit meinen Eltern auf der Todesliste“ - Zeitzeugin Eva Weyl zu Besuch am Heisenberg-Gymnasium
Es sind nicht nur Zahlen aus einer aktuellen Studie, die uns Grund zur Sorge geben. Rund 8% der Deutschen haben laut dieser ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Es sind auch die aktuellen, schrecklichen Bilder und Nachrichten, die uns aus Israel erreichen, sowie die Aufrufe zu Hass und Gewalt gegen Juden von Hamas-Anhängern weltweit und auch in Deutschland, die uns zusätzlich die Bedeutung der Veranstaltung vor Augen führen, die wir noch kurz vor Beginn der Herbstferien im Forum unserer Schule durchführen konnten: Zeitzeugin Eva Weyl, die mit ihrer Familie während des NS-Regimes im niederländischen Lager Westerbork inhaftiert war, machte rund 200 Schüler*innen unserer Q-Phase zu Zweitzeugen, indem sie in einem beeindruckenden, erschütternden Vortrag über ihre Erfahrungen als Überlebende des Holocaust berichtete.
Nach einer kurzen Begrüßung durch die Schulleitung begann die 1935 geborene Eva Weyl ihren Vortrag zunächst mit einigen Informationen zu ihrer Familie. Die Familie ihres Vaters hatte sich eine gute Existenz als Kaufleute aufgebaut. Nach einer Phase des Hausierens in Haltern, später der Gründung einiger Geschäfte in Erkelenz, eröffnete die Familie schließlich ein erstes großes Kaufhaus in Kleve am Niederrhein. Doch ab 1930 kam es zu immer stärkeren antisemitischen Anfeindungen und dem Boykott gegen jüdische Geschäfte. Banner wie „Die Juden sind unser Verderben“ oder „Der Jude ist unser größter Feind!“ wurden gehisst, die Kinder und Jugendlichen in Schulen zunehmend indoktriniert. Im Jahre 1934 entschieden sich ihre Eltern, auch ihre Mutter war gebürtige Deutsche, zur Flucht in die Niederlande, da sich die Situation nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 immer mehr verschärfte. Wie alle anderen jüdischen Grund- und Immobilienbesitzer wurden sie später enteignet.
Frau Weyl erinnerte an die Reichspogromnacht am 09. November 1938, in der überall in Deurschland Synagogen, jüdische Geschäfte und andere jüdische Einrichtungen angegriffen, zerstört und niedergebrannt wurden und die Diskriminierung gegen Juden in offene Verfolgung überging. Tausende Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, verhaftet, getötet oder dazu gezwungen, Deutschland zu verlassen.. Es war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Niederlande im Mai 1940 durch die Deutschen eingenommen, womit Familie Weyl auch in den Niederlanden nicht mehr sicher war, und im Januar 1942 beschlossen führende Nationalsozialisten bei der Wannseekonferenz die sogenannte „Endlösung“, das inoffizielle Todesurteil für 6 Millionen Juden in Deutschland und Europa. Auch Familie Weyl war betroffen: „Vor 80 Jahren stand ich mit meinen Eltern auf der Todesliste“, so Eva Weyl.
Rückblickend weiß Eva Weyl zu berichten, dass sie oft Glück im Unglück hatte. Im Januar 1942 wurde sie, gerade einmal 6 Jahre alt, mit ihrer Familie ins niederländische Lager Westerbork gebracht. Das Gelände maß 500 mal 500 Meter, war umgeben von Stacheldraht, Gräben und acht Wachtürmen. Bis zu 17.000 Juden, Sinti und Roma waren dort inhaftiert, lebten in Baracken mit bis zu 300 Personen, aufgeteilt in Männer und Frauen. Für die meisten war es nur ein Zwischenlager. Mehr als 107.000 Menschen wurden vom Lager Westerbork aus weiter in Arbeits- oder Konzentrationslager deportiert, in den meisten Fällen also in den sicheren Tod geschickt. Auch ihre Familie sollte deportiert werden, stand auf der Liste.. Doch kurz vor der Abfahrt wurde das Lager von den Alliierten bombardiert, weil man es aufgrund eines Schornsteins für eine Fabrikanlage hielt. Die für die Deportation nötige Infrastruktur wurde zerstört, es herrschte Chaos und die Liste verschwand. So blieb die Familie im Lager - und am Leben.
Immer wieder betont Eva Weyl, Westerbork sei ein Ausnahme-, ja ein Vorzeigelager gewesen, das eher einem kleinen Dorf glich – wären da nicht der Stacheldraht, enge, primitive Massenbehausungen und die Angst vor Kommandant Albert Konrad Gemmeker und seinen Entscheidungen über Deportationen gewesen. Doch sie als Kind habe nur wenig davon mitbekommen, da die Eltern ihr gut zuredeten und Angst nahmen. In Westerbork wurde weder gefoltert noch getötet, anders als in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es gab Schulunterricht, Beschäftigung für die Eltern, drei Mahlzeiten am Tag, ein gut organisiertes Krankenhaus mit hinreichend ärztlichem Personal, ein Laienorchester, und nach den ersten schwierigen Monaten konnte Familie Weyl sogar in einem Raum in einer Baracke zusammenleben. Sprach man deutsch, so wie ihr Vater, konnte man sich besondere Positionen erarbeiten, was die Chance, vorerst nicht deportiert zu werden, erhöhte. Doch die Verzweiflung zeigte sich auch hier immer wieder deutlich: Jede Woche nahmen sich 3-5 Inhaftierte das Leben. Hielt man sich nicht an Regeln, geriet in Ungnade bei Gemmeker, wurde man in andere Lager deportiert.
Am 12.04.1945 wurde das Westerbork von Kanadiern befreit. Insgesamt überlebten 5.000 Inhaftierte die Zeit im Lager, darunter Eva Weyl und ihre Eltern.
Eva Weyl machte immer wieder deutlich, dass sie weder ihren jugendlichen Zuhörer*innen noch anderen nach dem Krieg geborenen Deutschen die Schuld für die Gräueltaten der Nazis gebe. Sie seien aber sehr wohl verantwortlich dafür, dass so etwas nie wieder geschehen kann. Deshalb möchte sie daran mitwirken, junge Menschen zu Zweitzeugen auszubilden, die die Erinnerung an den Holocaust weitertragen, auch wenn die unmittelbar Betroffenen bald nicht mehr leben.
Wir danken Eva Weyl herzlich für Ihr Kommen und hoffen, unsere Schüler*innen und Schüler damit motiviert und ermutigt zu haben, sich gegen jegliche Form von Rassismus und Antisemitismus zur Wehr zu setzen.
Text: Caroline Amft, Anja Peters-Kern
Fotos: Caroline Amft
Tags: Zeitzeuge, Schule ohne Rassismus;, Westerbork, Konzentrationslager